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VBL-Zusatzversorgung: Startgutschriften der rentenfernen Versicherten unverbindlich

Datum: 22.09.2005

Kurzbeschreibung: 

Die beklagte Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) zahlt Versicherten im öffentlichen Dienst eine Zusatzrente, mit der die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufgestockt wird. Mit Ablauf des 31.12.2001 hat die VBL ihr Zusatzversorgungssystem umgestellt von einer an der Beamtenversorgung orientierten Gesamtversorgung, die sich am Endgehalt der letzten drei Jahre orientiert, auf ein auf die Verzinsung von Beiträgen ausgerichtetes Punktemodell.

Der Systemwechsel beruht auf einer Einigung der Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes im Tarifvertrag Altersversorgung vom 03.01.2002 (ATV). Die Tarifregelungen hat die VBL durch eine Neufassung ihrer Satzung (VBLS) rückwirkend zum  01.01.2002 umgesetzt. Die neue Satzung enthält Übergangsregelungen für die im bisherigen Gesamtversorgungssystem von den Versicherten erlangten Rentenanwartschaften. Diese werden wertmäßig festgestellt und als so genannte Startgutschriften auf die neuen Versorgungskonten übertragen. Dabei wird unterschieden zwischen rentennahen Jahrgängen (die am 01.01.2002 das 55. Lebensjahr vollendet haben) und den jüngeren, rentenfernen Jahrgängen. Die Anwartschaften der ca. 200.000 rentennahen Versicherten werden weitgehend nach dem alten Satzungsrecht ermittelt und übertragen. Die Anwartschaften der ca. 1,7 Millionen Rentenfernen berechnen sich gemäß § 79 Abs.1 S.1 VBLS nach § 18 Abs. 2 BetrAVG. Die Vorschrift enthält Regelungen zur Höhe betrieblicher Versorgungsanwartschaften für Arbeitnehmer, die vor Eintritt des Versorgungsfalles aus einem Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst ausgeschieden sind.

Den Zivilgerichten liegen zahlreiche Klagen vor, mit denen sich Versicherte gegen die Wirksamkeit und Verbindlichkeit der ihnen mitgeteilten Startgutschriften wenden. Das Landgericht Karlsruhe hat mehrfach entschieden, dass durch die Neuregelung in unzulässiger Weise in bestehende Rentenanwartschaften eingegriffen werde, und die VBL zur Gewährung einer höheren Betriebsrente verpflichtet.

Dagegen sind beim Oberlandesgericht Karlsruhe zahlreiche Berufungen der VBL und der Versicherten eingegangen.
Der für das Versicherungsrecht zuständige 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe hat heute erstmals über die Berufungen in insgesamt 16 Fällen von  rentenfernen Versicherten entschieden. Er hat festgestellt, dass die von der Beklagten erteilte Startgutschrift den Wert der von der Klägerin/dem Kläger bis zum 31.12.2001 erlangten Anwartschaft auf eine bei Eintritt des Versicherungsfalles zu leistende Betriebsrente nicht verbindlich festlegt.

Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt:
Die Bestimmungen der neuen Satzung der Beklagten, auf denen die mitgeteilte Startgutschrift beruht, sind für das betreffende Versicherungsverhältnis unwirksam. Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht. Zwar unterliegt die gerichtliche Überprüfung von Satzungsbestimmungen der VBL, die dem zugrunde liegenden Tarifrecht entsprechen, den für Tarifverträgen selbst geltenden Maßstäben. Den Tarifpartnern steht bei der Abänderung von Versorgungszusagen, die auf Tarifrecht beruhen, mit Rücksicht auf die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie ein  weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Tarifvertragsparteien und die Beklagte sind jedoch an das Willkürverbot gebunden und haben bezüglich vorhandener Besitzstände die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Je stärker in eine bestehende Versorgungszusage eingegriffen wird, desto schwerwiegender müssen die Eingriffsgründe sein. Die Versicherten haben im Zusatzversorgungssystem der Beklagten eine als Eigentum (Art. 14 GG) sowie nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit geschützte Rechtsposition erlangt. Ihnen steht die Anwartschaft auf eine Versorgungsrente nach Maßgabe der alten Satzung zu. Hierfür haben sie ihre Gegenleistung - durch die vom Arbeitgeber für sie an die Beklagte gezahlten Umlagen - bis zum Umstellungsstichtag bereits erbracht. Angesichts der erheblichen Bedeutung der privaten Altersversorgung für die Existenzsicherung und Lebensführung im Alter sind deshalb an die Rechtfertigung von Eingriffen keine geringen Anforderungen zu stellen.

Diesen Anforderungen halten die Übergangsregelungen nicht stand. Zwar stellt der Systemwechsel selbst noch keinen ungerechtfertigten Eingriff dar. Auch ist der Zweck der Regelung, die aufrechtzuerhaltende Anwartschaft in bestimmter Höhe zeitnah und abschließend zu ermitteln, nicht zu beanstanden. Jedoch greift die Übergangsvorschrift mit der Bezugnahme auf die gesetzliche Regelung für  ausgeschiedene Versicherte (§ 18 Abs. 2 BetrAVG) in vielen Fällen erheblich in die Anwartschaften ein. Oft bleibt die Startgutschrift schon hinter dem im bisherigen System erdienten Teilbetrag, der sich nach der alten Satzung unter Zugrundelegung der letzten Arbeitsentgelte vor dem Umstellungsstichtag bestimmt, erheblich zurück. Zumindest besteht nach der Übergangsregelung wegen der Verschlechterung zahlreicher Berechnungsfaktoren die konkrete Gefahr einer erheblich nachteiligen Wertfestschreibung. Die Höhe der von der Gesamtversorgung abzuziehenden gesetzlichen Rente wird nicht auf der Grundlage einer individuellen Rentenauskunft des Rentenversicherungsträgers, sondern pauschaliert nach einem Näherungsverfahren ermittelt. Teilweise übersteigt die Näherungsrente die hochgerechnete tatsächliche Rente um ca. 25 % bis hin zu mehr als 140 % im Einzelfall.

Die Eingriffe in die Rentenanwartschaften sind nicht hinreichend gerechtfertigt. Die Beklagte und die Tarifpartner verletzen dadurch die als Eigentum nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit geschützten Besitzstände der Versicherten sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Übergangsregelungen beruhen schon auf einer unzureichenden Sachverhaltsermittlung durch die Tarifpartner. Diese haben, anders als bei den Bestandsrentnern und den rentennahen Jahrgängen, die mutmaßlichen finanziellen Auswirkungen eines erhöhten Besitzstandsschutzes nicht in ihre Überlegungen einbezogen. So war eine sachgerechte Abwägung der Eingriffsgründe mit den schutzwürdigen Belangen der Versicherten von vornherein nicht möglich. Damit kann auch nicht festgestellt werden, dass die Eingriffe zur Erreichung des angestrebten Ziels - der Erhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Zusatzversorgungssystems - erforderlich waren. Darüber hinaus stehen die  Eingriffe außer Verhältnis zum Regelungsziel. Allein durch die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens werden die Versicherten im Übermaß belastet. Der von der VBL dargelegte Verwaltungsmehraufwand durch eine konkrete Rentenberechnung rechtfertigt die erheblichen Eingriffe nicht. Vielmehr sind die durchschnittlichen Mehrkosten von 17,65 € pro Versicherten zur Vermeidung der Rechtsnachteile in Kauf zu nehmen. Durch die allein für sie vorgesehene ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens werden rentenferne Pflichtversicherte auch in gleichheitswidriger Weise benachteiligt.

Da die Besitzstandsregelungen der neuen VBLS zum Nachteil der betroffenen Kläger gegen höherrangiges Recht verstoßen, sind sie für ihr Versicherungsverhältnis unwirksam und die darauf beruhenden Startgutschriften unverbindlich. Es besteht jedoch kein Anspruch auf die Feststellung eines bestimmten (höheren) Wertes der Anwartschaft oder Startgutschrift zum Umstellungsstichtag oder der Bindung der Beklagten an einen bestimmten Berechnungsmodus. Dahingehende gerichtliche Feststellungen wären mit der  verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie unvereinbar. Es bleibt allein Sache der Tarifpartner, die Besitzstände der rentenfernen Versicherten unter Beachtung des höherrangigen Rechts neu auszugestalten. 

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat das Oberlandesgericht in allen Verfahren die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 22.September 2005 - 12 U 99/04

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